De arte venandi
2021
Die titelgebende Radierungsserie Mimmo Paladinos (*1948), „De arte venandi cum avibus“, frisch entstanden im Jahr eins der Corona Pandemie, 2021, paraphrasiert eindrücklich bildhaft die Abhandlung des Staufenkaisers Friedrich II. zur Wissenschaft der Jagd.
Das Bild des Falken im Flug verschmilzt mit der Vorstellung eines Streifzugs über die Alpen, aufgestiegen im bayerischen Voralpenland und Kurs genommen in Richtung der sonnengesteppten Felder Apuliens.
Streifzug, Luft, Höhenzüge, Ebenen und Castelli... ist es vermessen, die Bella Figura, die Eleganz und Lebenslust, aber auch die Melancholie einer bestimmten Haltung, einer geographischen Verortung, dem italienischen Stiefel entlocken zu wollen in der Versammlung einer Ausstellung Künstler und Künstlerinnen verschiedener Generationen des europäischen Nachbarstaates ?
Die Bilder einer Mythologie des 21. Jahrhunderts schickt uns Alessandro Pessoli (*1963) von der Westküste der USA, mit Salvo (*1947 - 2015) schwingt Licht und Farbe durch den Raum, Thomas Braida (*1982) widmet sich auf ganz eigene Weise der gestaltgewordenen Farbe und Figur und Michelangelo Pistoletto (*1933) strebt in seinen Pozzi der Tiefe der Vorstellungskraft eines Spiegelbildes nach, und nennt die Serie der Bodenskulpturen „ogetti in meno“ - Minus Objekte.
Vielfalt von und Verbundenheit in einer Haltung zu Figur, Form, Farbe und Erzählung sind im Diskurs der Generationen augenfällig und inspirierend. Individuelles und Gemeinsames klingt durch die Ausstellung. Giorgio Agamben, der italienische Denker, beschreibt einen schönen Prozess, der vielleicht eine Tonspur zur Ausstellung legt:
„Genius nannten die alten Römer den Gott, dessen Schutz jeder Mensch bei seiner Geburt anvertraut wird...
Aufs wunderbarste tritt die geheime Beziehung, die jeder von uns mit seinem Genius pflegen sollte, in dem lateinischen Ausdruck indulgere genio zu Tage. Man muss dem Genius nachgeben,,,,,sein Glück ist unser Glück. Auch wenn seine - unsere! - Ansprüche unsinnig und launenhaft erscheinen mögen, tun wir gut daran, sie ohne Widerrede zu akzeptieren. Wenn ihr - er - zum Schreiben genau das gelbliche Papier, einen bestimmten Stift braucht, und wenn es ausgerechnet das von links einfallende schwache Licht sein muss, dann sagt ihr euch vergeblich, dass jeder Stift zum Schreiben taugt, dass jedes Papier und jedes Licht in Ordnung ist. ... „
Cesarina Giulino (*1890 - 1992) als Ballerina, Malerin und Sammlerin verkörpert eine andere Blickachse der Ausstellung, die uns das Webgeflecht der Bilder und Skulpturen auch anhand einer biographischen Form in der Eigenheit italienischer Kunst erkunden lässt.
Ihre Zeichnungen als Ausdruck von Kenntnis und Leidenschaft der Sammlerin geben ein Zeugnis von der vielfältigen Perspektive, die in ihrem Leben als formgebende Kraft erscheint.
Der Dialog im Papier wird mit einer signifikanten Arbeit von Lucio Fontana, den bildmächtigen Radierungen von Mario Merz und neuen Radierungen von Francesco Barocco (*1972) fortgeführt.
Barocco entwickelt aus der Tiefe der Plattenstruktur seine mythischen Portraits. Ihre Verkörperung schwingt in bewusster Doppeldeutigkeit vom Schattenhaften zum Plastischen, von Bruch und Sprung zu Einheit und Wärme eines Werkstoffs wie Terrakotta.
Die territoriale Formung der individuellen Exzellenz erheben die sechs Künstler*innen des italienischen Stiefels in ihren Werken zur gemeinsamen Ausstellung. Die legendäre Italianität, in ihrer geschichtlichen Prägung und Jahrhunderte überspannenden Größe, aber auch ihrer Ermüdung, Lässigkeit und abwinkenden Erfahrung ist ein fortlaufendes Projekt der kulturellen und humanistischen Entwicklung. Aus dem tagespolitischen Krisenmanifest der vergangenen Monate erstrecken sich die Erinnerungen des Landes über die Moderne zu Renaissance und Antike.
Die Rolle der Stadtstaaten lässt sich über die Jahrhunderte als das Spannungsfeld einer Batterie begreifen, dass die geschichtliche Größe, Himmelsflug und Absturz der menschlichen Kultur exemplarisch vorführt und doch zu seiner ganz eigenen Qualität verschränkt. Daher ist die Kombination dreier Generationen künstlerischer Aussage auch keine Beliebigkeit, sondern eine stellvertretende Studie für die Individualität der Aussagen, die sich immer schon in den Territorien Italiens entwickelt haben. Territorium und Individualität sind formell beispielsweise gefasst im Sizilien Lampedusas, im Rom der Renaissance-Päpste und auch im Mailand Giorgio Armanis.
Mit Dank an Sigrun Leyerseder, Norma Mangione, Anton Kern und Bruno Kuhlmann.
MK
___________________________________________
Die Ausstellung findet im Rahmen von VARIOUS OTHERS 2021 statt.
Besonderer Dank gilt allen Künstler*innen, unserer Partnergalerie Norma Mangione, Turin, unseren Kolleg*innen bei der Anton Kern Gallery, sowie Sigrun Leyerseder und Bruno Kuhlmann.